Interview

Mona El-Achkar über das Projekt Al-Ussra

Interviewerin: Jasmin Adler, Mittwoch, 22.12.2021, ~ 13:05 Uhr – 13:40 Uhr

„Al-Ussra“ – der Name kommt aus dem Arabischen und bedeutet „Familie“ – ist eines der größten Projekte des Al-Dar-Vereins und wurde im Jahr 2000 ins Leben gerufen. Das Projekt stellt ein Auffangbecken für in Berlin gestrandete arabischsprachige Familien dar, die häufig aus traumatischen Lebensumständen im eigenen Land nach Deutschland fliehen mussten. Mona El-Achkars Familie war damals selbst vor den Zuständen im Libanon geflüchtet. Seit 2001 hilft sie daher Familien, die ähnliches durchmachen mussten und betreut das Al-Ussra-Projekt als leitende Koordinatorin.

Hallo Mona, danke, dass du dir Zeit für das Interview nimmst. Du kommst direkt von einer Hilfekonferenz in Kreuzberg. Wie steht diese Konferenz mit Al-Ussra in Verbindung?

Die sogenannte Hilfekonferenz dient einem ersten Kennenlernen der Hilfe suchenden Familie mit mir als der Al-Ussra-Koordinatorin und der von mir ausgewählten pädagogischen Fachkraft, die die Familie in Zukunft betreuen soll. Hier werden die Ziele benannt, nach denen zukünftig gearbeitet wird.

Heute war ich beispielsweise auf eine Hilfekonferenz für eine Familie, die begleiteten Umgang erhalten soll. Dieser wurde gerichtlich angeordnet und bezieht sich auf den Kontakt zwischen Eltern und Kind.

Gibt es auch Familien die über die vorher genehmigte Hilfeperiode hinaus noch durch euch betreut werden?

Die Eltern einer Familie werden bereits zu Beginn der Bewilligungszeit an unterschiedliche zusätzliche Beratungsstellen, Deutschkurse usw. vermittelt und werden also nicht von heute auf morgen sich selbst überlassen. Wenn die Familienhilfe beendet wurde, kann sich die Familien dennoch auch weiterhin an Al-Dar wenden. Also nicht mehr an die Koordinatoren bzw. Fachkräfte des Al-Ussra-Projektes, jedoch an die Beratungszentrale des Vereins.

Was bedeutet Al-Ussra und was verbindest du mit dem Wort?

Al- Ussra bedeutet für mich „Familie“ jedoch in einem weiteren Sinne. Al-Ussra bezieht sich nicht bloß auf die kleinen Familien, sondern meint eher die große Familie, die die Beziehungen zwischen allen Völkern der Erde symbolisiert.

Unser Projekt Al-Ussra lebt bisher vor allem durch die Mund-Propaganda. Familien, denen wir bereits weiterhelfen konnten empfehlen uns an die nächsten Familien weiter.

Wie bist du zu dem Verein und dem Projekt gekommen?

Die Vorstandsvorsitzende, Renée Abul-Ella, hat mich damals für die Arbeit des Al-Dar-Vereins begeistert. Unsere beiden Familien stammen aus Palästina und so kam es, dass ich Renée bereits von klein auf kennen lernte.

Ich entschloss mich damals Soziale Arbeit zu studieren, gefolgt von einem Praktikum bei Al-Dar im Jahr 1989. Zwischenzeitlich war ich bei einem anderen Verein angestellt und kam anschließend 2001 zurück zu Al-Dar. Mich reizte damals besonders die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, denn ich hatte bereits eine kleine Tochter und konnte sie problemlos mit zur Arbeit nehmen. Es war ausdrücklich erwünscht, dass ich als Frau arbeite und mein Kind zur Arbeit mitbringen kann. Mir ist aus dieser Zeit besonders ein Bild in Erinnerung geblieben: Eine Frau, der ich beim Ausfüllen bürokratischer Formalitäten half, übernahm dafür zeitgleich, in meiner Gegenwart, die Betreuung meines Kindes.

Zu Beginn meiner Tätigkeit als Familienhelferin, merkte ich dann, dass Familienhilfe ist nichts für mich. Immer dann, wenn meine Kinder von der Schule nach Hause kamen, musste ich los, um die anderen Familien zu betreuen. Renée offerierte mir daher zunächst eine organisatorische Tätigkeit im Vereinsbüro.

Ich wurde dann von heute auf morgen in die Position einer Koordinatorin befördert. Ich wurde sozusagen ins kalte Wasser geschmissen und musste schnell lernen mich zurecht zu finden. Von einer ehrenamtlich und teilweise geringfügig Beschäftigten sowie Familienhelferin für Al-Dar stieg ich auf, in die Rolle einer Koordinatorin. In die Fußstapfen von Renée zu treten war nicht einfach. Ich bekam sehr viel Einarbeitung durch Renée und mittlerweile fühle ich mich sicher in meiner Rolle.

Seit wann existiert Al-Ussra und wem wird hier geholfen?

Das Al-Ussra-Projekt gibt es seit dem Jahr 2000. Hier werden die Familien als Ganzes betrachtet. Egal ob es sich um Identitätskrisen, Pubertierende, Sucht- oder Trauma-Probleme handelt, wir nehmen uns dieser Familien an. Häufig handelt es sich bei den Krisen um eheliche Konflikte, die dann auf den Rücken der Kinder ausgetragen werden. Einzelfallhilfen beziehen sich nur auf ein Kind und behandelt meistens Identitätsfragen und Bedürfnisse des Gehört- und Gesehen-Werdens. Begleitete Umgänge meint die begleitete Hilfe eines Kindes unter Teilnahme eines Elternteils. Häufig spielt hier eine vorangegangene Trennung der Eltern eine Rolle. Den Eltern muss im Verlauf der gemeinsamen Sitzungen mit den entsprechenden Al-Ussra-Fachkräften vermittelt werden, dass es nun nicht mehr um die Paarebene, sondern um die Eltern-Kind-Ebene geht. Zu Beginn kann es für die Eltern schwierig sein, die Ebenen zu trennen.

Beim Teilhabefachdienst besteht eine Spezialisierung auf Kindern mit Behinderung, um ihnen die Möglichkeit an der Teilhabe in der Gemeinschaft zu gewähren.

Hauptsächlich Familien mit arabischsprachigen Hintergründen soll durch die Arbeit seitens Al-Ussra geholfen werden. Zudem helfen wir auch vielen kurdischen Familien und aktuell vor allem Familien aus Afghanistan.

Wie groß ist das Al-Ussra Team was sind eure Qualifikationen?

Es arbeiten aktuell um die 23 Mitarbeiter*innen für das Projekt. Es ist ein Team bestehend aus Psychologen, Sozialarbeitern, Soziologen, Erziehern, Pädagogen und Quereinsteigern mit akademischen Grad. Die Fachkräfte werden mittels Vorstellungsgesprächs ausgewählt und unsere Menschenkenntnis hatte Renée und mich hier noch nicht im Stich gelassen.

Als Koordinatorin bin ich bei jeder Hilfekonferenz dabei und behalte den Überblick über die Familien, die betreut werden. Selbst betreue ich keine Familien, sondern begleite die jeweiligen Fachkräfte. Es werden aktuell 60 Familien betreut.

Welchen Familien konntet ihr bereits helfen und gibt es hier ein Schicksal, das dich besonders bewegt?

Während der Hilfekonferenzen gefällt es mir besonders den Entwicklungsprozess der Familien, die wir betreuen, mitzuerleben. Insbesondere die Entwicklung in Bezug auf die einzelnen Frauen und Mütter ist faszinierend mit anzusehen und wie ihre Selbstständigkeit und Stärke wachsen. Durch unsere Unterstützung bei der Erziehung der Kinder und je sicherer die Eltern werden, desto besser geht es den Kindern, das ist meist deutlich zu erkennen.

Warum wird deiner Meinung nach die Arbeit von Al-Ussra auch in Zukunft eine Rolle spielen?

Familien benötigen immer in unterschiedlichen Lebensabschnitten Unterstützung. Im Jahr 2000 waren es vor allem libanesische, palästinensische und kurdische Familien. Auch gab es Familien aus Ägypten, dem Jemen oder Irak. Aktuell stehen besonders Geflüchtete aus Syrien bei uns im Fokus sowie ein paar Familien aus Afghanistan.

Was hoffst du eventuell noch über die Leistungen des Al-Ussra-Projektes für die Familien zu erreichen?

Es wäre sinnvoll und notwendig, die erweiterte Hilfe nach Beendigung der Erziehungshilfe zu garantieren und nach Möglichkeit zu intensivieren. Unser Geldgeber sind die Jugendämter. Das bedeutet strukturell wird sich hier nicht viel ändern lassen. Natürlich wünsche ich mir, dass die Leistungen unseres Al-Dar-Vereins irgendwann anerkannt werden und Al-Dar eine Regelfinanzierung erhält, aber bis dorthin ist es vermutlich noch ein langer Weg.

Was gefällt dir besonders an dem Projekt und was möglicherweise weniger?

Ich liebe meinen Beruf, weil mir hier die Möglichkeit geboten wird, mit Menschen zu arbeiten und ihnen zu helfen. Jeder dieser Menschen bringt eine Geschichte mit, Ressourcen aber auch Komplikationen. Ein großes Hindernis stellt für mich der zeitlich begrenzte Rahmen unserer Hilfe dar. In meiner Arbeit ist es wichtig schnell auf Krisen, die innerhalb einer der zu betreuenden Familien entstehen, zu reagieren und insbesondere den Kinderschutz im Blick zu behalten. Das ist manchmal aufgrund zeitlicher Begrenzungen belastend. Mit Krisen meine ich beispielsweise das frustrierte Eltern beginnen ihre Kinder zu prügeln, ein Kind aus dem Elternhaus ausbricht oder ein Familienmitglied mit seinem Trauma konfrontiert wird.  In Bezug auf Erziehungshilfen gilt der Kinderschutz mit einem 24/7-Bereitschaftsdienst. Wenn hier etwas passiert ist, gilt es zunächst die Richtlinien nach dem Kinderschutzprinzip einzuhalten. Diese setzen als erstes ein Vier-Augen-Prinzip bzw. eine Rücksprache mit der betreuenden Fachkraft der Familie voraus. Gegebenenfalls ist auch eine weitere im Kinderschutz versierte Fachkraft hinzuzuziehen. Anschließend folgt eine eine Kinderschutzmeldung an das zuständige Jugendamt.

Wie haben du und dein Team während der Corona-Zeit weitergearbeitet?

An dieser Stelle möchte ich hervorheben, dass ich ein ganz tolles Team habe! Die Al-Ussra-Mitarbeiter*innen haben mir während der Pandemie immer wieder ihre Flexibilität und ihr Pflichtbewusstsein bewiesen und tun es noch. Es gilt mittlerweile jeden Gesprächstermin mit den zu betreuenden Familien genau abzuwiegen. Denn es ist durchaus schon passiert, dass uns Familien bewusst oder unbewusst einen Corona-Infekt nicht mitgeteilt haben und dann die Fachkraft das Kind gesehen hat und gefragt hat, warum es nicht in der Schule ist. Dann kam erst heraus, dass das Kind sich infiziert hat und sich in Quarantäne befindet. Das sind leider Probleme mit denen unser Team nach wie vor zu kämpfen hat. Auch liegt es an uns bei den Familien Aufklärungsarbeit bzgl. der Pandemie zu leisten und sie über die aktuell geltenden Corona-Maßnahmen zu informieren.

In Bezug auf die Familienhilfe ist es wichtig, dass unsere Fachkräfte den Direktkontakt mit den Familien aufnehmen, um mit ihnen arbeiten zu können. Während der Lockdowns entstanden viele Krisenherde, da die Familien häufig gezwungen waren auf engem Raum und über mehrere Tage hinweg „aufeinander zu hocken“. Während dieser Extremphasen hätte ich mir gewünscht, dass es zum Schutz unserer Fachkräfte, seitens der Regierung und der Jugendämter mehr Unterstützung bzw. mehr Richtlinien in der ambulanten sozialpädagogischen Hilfe gegeben hätte.

Foto/Renée Abul-Ella
Mona Al-Achkar und ich (Interviewerin) in der Al-Dar-Hauptzentrale

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